Der Nachsommer
Im Rosenhof seines Freundes Risachs erblüht Heinrichs Liebe zu Natalie, die auf Erwiderung und Zustimmung der Eltern trifft. Viele Jahre zuvor hatte Risach es nicht so leicht: Seine Beziehung zu Mathilde scheiterte an Standeskonventionen, und erst jetzt, nach Jahren der Trennung, erleben sie ihren Nachsommer, ein zweites Glück. Durch das Erzählen seiner eigenen Geschichte und das Heranführen an sein Lebenskonzept nimmt Risach Einfluss auf die Entwicklung seines jungen Freundes und formt ihn hin zum sittlichen, mit sich und der Welt in Harmonie lebenden Menschen. Wie sieht es aus, das vollkommene Glück? Dieser Roman sucht Antworten - und findet sie.
Autor: Adalbert Stifter
Illustration:
ca. 212 Seiten
Abriss
Der 1857 erschienene Roman "Der Nachsommer" ist einer der großen Bildungsromane des 19. Jahrunderts, der die Entwicklung eines jungen Menschen zu Schönheit und Sittlichkeit schildert.Epoche
19. JahrhundertSchauplatz
ÖsterreichLeseprobe
„Zuerst muß ich von mir erzählen“, begann er, „es dürfte so notwendig sein. Ich bin im Dorfe Dallkreuz in dem sogenannten Hinterwalde geboren worden. Ihr wißt, daß der Name Hinterwald nicht mehr so viel zu bedeuten hat, als er sagt. Einmal war er wie über die ganze Gegend, welche von unserem Strome als ein Gebilde von Hügeln nordwärts geht, auch über die Gründe von Dallkreuz verbreitet. Dallkreuz war damals nicht, und sein Entstehen mochte mit dem Aufschlagen von einigen Holzarbeiterhütten begonnen haben. Jetzt sind Felder, Wiesen und Weiden über das ganze Hügelland gebreitet, und einige Reste der alten Waldungen schauen ernst auf diese Gründe herab. Das Haus meines Vaters stand außerhalb des Ortes in der Nähe einiger anderer, war aber doch frei genug, um auf Wiesen, Felder, Gärten und im Süden auf ein sehr schönes blaues Waldband zu sehen. Als ich ein Knabe von zehn Jahren war, kannte ich alle Bäume und Gesträuche der Gegend und konnte sie nennen, ich kannte die vorzüglichsten Pflanzen und Gesteine, ich kannte alle Wege, wußte, wohin sie führten und war in allen benachbarten Orten schon gewesen, die sie berühren. Ich kannte alle Hunde von Dallkreuz, wußte, welche Farben sie hatten, wie sie hießen und wem sie gehörten. Ich liebte die Wiesen, die Felder, die Gesträuche, unser Haus außerordentlich, und unsere Kirchenglocken däuchten mir das Lieblichste und Anmutigste, was es nur auf Erden geben kann. Meine Eltern lebten in Frieden und Eintracht, ich hatte noch eine Schwester, welche meine Knabenfahrten mit mir machen mußte. Zu unserem Hause, das nur ein Erdgeschoß hatte, welches aber schneeweiß war und weithin in dem Grün leuchtete, gehörten Wiesen, Felder und Wäldchen. Der Vater ließ aber das durch Knechte verwalten, er selber trieb einen Handel mit Flachs und Linnen, der ihn auf vielfache Reisen führte. Ich wurde, da ich noch ein Kind war, zu dem Erben dieser Dinge bestimmt, sollte aber vorher auf einer Lehranstalt die notwendige Ausbildung bekommen. Der Vater hatte, als dessen Eltern, die ich nur wenig gekannt hatte, gestorben waren, keine Verwandten mehr. Meine Mutter, die der Vater von ferne her geholt hatte, hatte noch einen Bruder, der aber mit ihr, weil sie als von einem wohlhabenden Hause stammend eine Verbindung unter ihrem Stande, wie er sich ausdrückte, geschlossen hatte, zerfallen war und durch nichts versöhnt werden konnte. Wir wußten nichts von ihm, man vermied es, seiner Erwähnung zu tun, und oft in einem ganzen Jahre wurde sein Name nicht genannt. Die Zustände meines Vaters aber blühten empor, und er war fast der Angesehenste in der Gegend. In dem Jahre, nach dessen Ende ich in die Lehranstalt abgehen sollte, trafen mehrere Unglücksfälle ein. Hagelschaden verwüstete die Felder, ein Teil des Gebäudes brannte ab, und als das alles wieder hergestellt und in das Geleise gebracht worden war, starb der Vater eines plötzlichen, unvorhergesehenen Todes. Ein lässiger Vormund, hinterlistige Handelsfreunde, welche zweifelhafte Forderungen stellten, und ein unglücklicher Prozeß, der daraus entsprang, brachten für die Mutter eine Lage herbei, in welcher sie mit Sorgen für unsere Zukunft zu kämpfen hatte. Sie war, da man endlich alles zur Ruhe gebracht hatte, auf das Notdürftigste beschränkt. Ich mußte im Herbste das geliebte Haus, das geliebte Tal und die geliebten Angehörigen verlassen. Mit ärmlicher Ausstattung ging ich an der Hand eines größeren Schülers zu Fuß den ziemlich weiten Weg in die Lehranstalt. Dort gehörte ich zu den Dürftigsten. Aber die Mutter sandte das, was sie senden konnte, so genau und zu rechter Zeit, daß ich nie viel, aber doch das zum Bestehen Nötige hatte. Es war an der Anstalt Sitte, daß die Knaben in den höheren Abteilungen denen in den niedereren außerordentlichen Unterricht erteilten und dafür ein Entgelt bekamen. Da ich einer der besten Schüler war, so wurden mir in meinem vierten Lehrjahre schon einige Knaben zum Unterrichten zugeteilt, und ich konnte der Mutter die Auslagen für mich erleichtern. Nach zwei Jahren erwarb ich mir bereits so viel, daß ich meinen ganzen Unterhalt selbst bestreiten konnte. Jede Jahresferien brachte ich bei der Mutter und Schwester in dem weißen Hause zu. Von dem Antreten des Hauses als Erbschaft war nun keine Rede mehr. Ich dachte, ich werde mir durch meine Kenntnisse eine Stellung verschaffen und das Haus und den Grundbesitz einmal als Notpfennig der Schwester überlassen. So war die Zeit heran gekommen, in welcher ich mich für einen Lebensberuf entscheiden mußte. Die damals übliche Vorbereitungsschule, die ich eben zurückgelegt hatte, führte nur zu einigen Lebensstellungen und machte zu andern eher untauglich als tauglich. Ich entschloß mich für den Staatsdienst, weil mir die andern Stufen, zu denen ich von meinen jetzigen Kenntnissen emporsteigen konnte, noch weniger zusagten. Meine Mutter konnte mir mit keinem Rate beistehen. Ich hatte mir ein kleines Sümmchen durch außerordentliche Sparsamkeit zusammengelegt. Mit diesem und tausend Segenswünschen der Mutter versehen und mit den Abschiedstränen der geliebten Schwester benetzt begab ich mich auf die Reise in die Stadt. Zu Fuße wanderte ich durch unser Tal hinaus, und suchte durch allerlei Betrachtungen die Tränen zu ersticken, welche mir immer in die Augen steigen wollten. Als unsere Wäldergestalten hinter mir lagen, als die Herbstsonne schon auf ganz andere Felder schien, als ich durch meine Jugend hindurch gesehen hatte, wurde mein Gemüt nach und nach leichter, und ich durfte nicht mehr fürchten, daß mir jeder, der mir begegnete, ansehen könne, daß mir das Weinen so nahe sei. Die Entschlossenheit, welche mir eingegeben hatte, in die große Stadt zu gehen und dort mein Heil in dem Berufe eines Staatsdieners zu suchen, ließ mich immer fester und rascher meinen Weg verfolgen und tausend glänzende Schlösser in die Luft bauen. Als ich an jenem Rande angekommen war, wo unser höheres Land in großen Absätzen gegen den Strom hinabgeht und ganz andere Gestaltungen anfangen, sah ich noch einmal um, segnete das Mutterherz, das nun beinahe schon eine Tagereise weit hinter mir lag, streichelte gleichsam mit den Fingern die schönen, langwimperigen Augenlider der Schwester, die immer etwas blaß aussah, segnete unser weißes Haus mit dem roten Dache, segnete all die Felder und Wäldchen, die hinter mir lagen und die ich durchwandelt hatte, und stieg, nun wirklich schwere Tränen in den Augen tragend, in den tiefen Weg hinunter, welcher damals unter hohem Laubdache hingehend einen der Pässe ausmachte, die das rauhere Oberland mit dem tiefen Stromlande verbinden. Ich konnte nun, nachdem ich drei Schritte gemacht hatte, die Gestaltungen meines Geburtslandes nicht mehr sehen, nur sein Rand war alles, was meine Augen erreichen konnten und was mich noch lange begleiten würde. Ganz andere Bildungen lagen vor mir. Es war mir, ich müsse umkehren, um nur noch einmal zurück schauen zu können. Ich tat es aber nicht, weil ich mich vor mir selber schämte, und ich ging beeiligten Schrittes den Weg hinunter und immer tiefer hinunter. Ich durfte auch nichts verzögern, wenn ich vor Einbruch der Nacht noch zu dem Strome hinunter gelangen wollte, auf dem mich am andern Morgen ein Schiff weiter tragen sollte. Die herbstliche Abendsonne spielte durch die Zweige, manche Kohlmeise ließ einen Ruf erschallen, wie ihn die hatten erschallen lassen, welche jetzt noch in meinen heimatlichen Bergwäldchen verweilten, mancher Fuhrmann, mancher Wanderer begegnete mir, ich ging mit ernstem Herzen weiter, und als die Sonne untergegangen war, hörte ich das Rauschen des Stromes, der mir nun so wichtig geworden war, und sah sein goldenes abendliches Glänzen.“„Ich vergesse mich“, unterbrach sich hier mein Gastfreund, „und erzähle euch Dinge, die nicht wichtig sind; aber es gibt Erinnerungen, die, wie unbedeutende Gegenstände sie auch für Andere betreffen, doch für den Eigentümer im höchsten Alter so kräftig dastehen, als ob sie die größte Schönheit der Vergangenheit enthielten.“
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